Vor dem Derby gegen Michelfeld spricht Marktstefts Trainer Raimo Wilde über den Reiz dieses Duells, die Idee eines regionalen Handball-Zentrums und unsinnige Sprüche.
Anruf am frühen Nachmittag bei Raimo Wilde. Ob er Zeit für ein Gespräch habe: wegen des Handball-Derbys am Samstag, Marktsteft gegen Michelfeld. Im Hintergrund klingelt sein Festnetztelefon, er geht kurz ran, Terminabsprache mit einem Kunden seines Dachdeckerbetriebs. Dann ist er wieder da. Jetzt habe er Zeit. Wilde sitzt nach eigenen Angaben in einer Lounge-Ecke seines Hauses. Von dort aus lässt es sich entspannt reden über seine neue und doch vertraute Aufgabe als Trainer des TV Marktsteft, seinen verstorbenen Mentor und über ein Projekt, das ihm seit Langem am Herzen liegt.
Frage: Versuchen Sie sich mal zu erinnern: Wann hat es das letzte Duell zwischen TV Marktsteft und SV Michelfeld gegeben?
Raimo Wilde: Oh Gott! Vor zwanzig Jahren?
Knapp daneben: Es war am 29. Januar 1994, also vor fast 25 Jahren, mit einem gewissen Raimo Wilde als Marktstefter Torschützen.
Wilde: Tja, da sieht man, wie die Zeit vergeht.
Haben Sie irgendeine Erinnerung an diese Spiele damals?
Wilde: Gar nicht. Ich weiß nur, dass die Halle jedes Mal voll war. Ich denke, das war im Jahr nach dem Marktstefter Abstieg.
Richtig, in der Kreisliga A.
Wilde: Meine Güte! So tief habe ich mal gespielt.
Die beiden Klubs haben sich nach dem einen gemeinsamen Jahr in der Kreisliga zeitweilig weit voneinander entfernt. Ist die jüngste Annäherung ein Zeichen für Michelfelder Stärke oder eher für Marktstefter Schwäche?
Wilde: Ach, ich weiß nicht. Die Vereine haben sich in den vergangenen Jahren sehr vielschichtig entwickelt. Sicherlich hat Michelfeld ganz schön aufgeholt. Da sage ich: Respekt, auch wenn ich sehe, welche Qualität da im Kader steckt. Aber Marktsteft hat in der Zeit, in der ich weg war, einen riesigen Sprung gemacht, das sieht man an den Außenanlagen der Halle, aber auch in der ganzen Struktur des Vereins.
Was erwarten Sie sich vom Duell an diesem Samstag?
Wilde: Wir wurden ja etwas zurückgeworfen im letzten Spiel gegen Rödelsee, sind nach schneller Führung aus dem Rhythmus gekommen, wobei ich schon dachte, dass die Sache nach dem Ausgleich in letzter Minute ein gutes Ende nehmen würde. Dem war nicht so. Wir haben durch einen Siebenmeter noch verloren. Aber die Moral unserer Spieler hat gepasst. Sie haben oft in Unterzahl gespielt, standen nicht in der Gunst der Schiedsrichter und haben trotzdem immer gekämpft.
Gegen Michelfeld braucht es wohl keiner speziellen Motivation.
Wilde: Wir bereiten uns vor wie auf andere Spiele auch. Natürlich wird so ein Spiel wie gegen Michelfeld hochstilisiert. Aber das macht den Sport ja auch schön.
Sie sprachen in der Vergangenheit gerne davon, dass man bei Spielen solcher Art ganz Marktsteft leerräumen könne, weil an so einem Abend alle Einwohner in der Halle seien. Wird das diesmal wieder so sein sein?
Wilde: Das war früher so. Da gab es in Marktsteft noch nicht so viele Einwohner (lacht). Die Stadt ist über die Jahre ganz schön gewachsen. Trotzdem: Wir rechnen mit einem vollen Haus.
Ist die Begeisterung noch mit der früherer Jahre vergleichbar?
Wilde: Ich habe in der Vorbereitung schon gespürt, dass noch großes Interesse besteht. Dann kam unser erstes Heimspiel gegen Giebelstadt, und die Zuschauer reagierten eher verhalten, vielleicht weil sie nicht wussten: Was kommt Neues? Wie spielt die Mannschaft? Das wird an diesem Samstag und in den Wochen darauf ganz anders sein.
Wie blicken Sie heute auf Ihre früheren Marktstefter Jahre? Sie waren dort in den 1990er Jahren Spieler, später dann auch Trainer.
Wilde: Vieles habe ich Günther Seitz zu verdanken (dem im vergangenen Jahr verstorbenen langjährigen Vorsitzenden des Vereins). Es gab in der Zeit genügend Angebote, von Marktsteft wegzugehen. Ich bin immer geblieben, weil die Kameradschaft und die Verbundenheit wirklich außergewöhnlich waren. Mir fällt jetzt keine Situation ein, in der mir die Mannschaft oder der Verein nicht geholfen hätten, wenn ich Hilfe brauchte. In Volkach fand ich mein Zuhause – in Marktsteft meine sportliche Heimat. Deshalb war es für mich im Sommer keine Frage zurückzukehren. Das war eine Herzenssache – auch gegenüber Günther Seitz, der mich oft fragte, ob ich mir nach der Zeit in der Bundesli-ga noch einmal Marktsteft vorstellen könnte.
Ist ein Nachwuchsprojekt, wie Sie es in den neunziger Jahren in Marktsteft angestoßen haben, heute überhaupt noch möglich?
Wilde: Ich habe vor zwanzig Jahren gesagt, dass wir – um im Landkreis etwas zu bewegen – zusammenrücken müssen. Wir haben tolle Vereine, die richtig gute Nachwuchsarbeit betreiben. Wieso bündeln wir das nicht zu einem großen Ganzen? Es gibt in jeder Mannschaft einen oder zwei sehr gute Spieler. Die müsste man zusammenführen und gemeinsam mit der Politik ein Handballzentrum aufbauen. Es geht gar nicht darum, Vereine abzuwickeln. Die können alle weiterexistieren – es sollte nur jeder mal begreifen, dass die richtig guten Spieler sowieso mal irgendwann den Verein wechseln. Ich bin dafür, diese Spieler weiter in ihrem Verein, ihrer Schule, ihrem Umfeld großwerden zu lassen, aber sie eben auch am Ort und gezielt zu fördern.
Das klingt gut und vernünftig, aber Ihre Idee scheitert doch am Kirchturmdenken vieler Vereine.
Wilde: Ja, das meine ich. Wenn man heute Vereine fragt: Wie viele Handball-Talente aus der Region haben es in die Bundesliga geschafft? Da reden wir von ganz wenigen: Dieter Großmann, Sven Sauerhammer, Rico Wilde. Fast kein hiesiger Verein hat einen hochklassigen Handballer hervorgebracht. Und wenn dann ein Vereinsvorsitzender sagt: Ihr nehmt uns die guten Spieler weg, zeugt das von wenig Weitsicht. Würde man die guten Leute gezielt fördern und diejenigen, die es nicht schaffen, würden wieder zu ihren Heimatvereinen zurückkehren, profitiert doch die ganze Region. Die Vereine würden alle an Qualität gewinnen. Aber das will keiner wahrhaben.
Vielleicht waren Sie mit Ihrer Idee schon immer visionärer als die meisten Klubs, in denen sich dieses Bewusstsein bislang nicht durchgesetzt hat.
Wären Sie denn ein Mann für solch ein Zentrum?
Wilde: Natürlich, ich wohne doch in der Region. Wir hatten in Marktsteft auch guten Nachwuchs, und ich wäre selbstverständlich bereit gewesen, meine Spieler abzugeben. Wir hatten in Marco Heß einen Junioren-Nationalspieler, wir hatten fünf Bayernauswahlspieler, unsere weibliche Jugend hat die bayerische Meisterschaft gewonnen.
Sie stünden als Kopf dieses Zentrums zur Verfügung?
Wilde: Ja klar, ich kann ja nicht bloß reden, und dann mache ich letztlich nichts.
Wenn das nicht klappt: Wie sieht denn Ihre weitere Planung aus? Könnten Sie sich vorstellen, noch einmal Bundesliga zu trainieren?
Wilde: In der Bundesliga können Sie nichts planen. Jedes Jahr kamen Angebote, aber ich habe immer alle abgelehnt – weil ich andere Prioritäten gesetzt habe und nicht schon wieder wegziehen wollte. Jetzt sieht es etwas anders aus. Ich lasse das auf mich zukommen.
Ich übersetze das mal so: Sie wären nicht abgeneigt, wenn das passende Angebot käme.
Wilde: Schau'n wir mal. Im Moment gefällt es mir in Marktsteft sehr gut. Ich hatte mir die Arbeit schwerer vorgestellt, aber ich habe hier eine tolle Mannschaft.
Mit den Vätern der meisten Spieler standen Sie vor 20, 25 Jahren selbst auf dem Feld, oder?
Wilde: (lacht) Ja, die Namen meiner Spieler kannte ich alle, aber halt von den Vätern her. Ich habe damals im Verein gesagt, sie sollen die Jungs zusammentrommeln. Dann stellte ich ihnen meine Ideen vor und sagte zu ihnen: Jetzt überlegt es euch, nächste Woche treffen wir uns wieder. Bei der ersten Besprechung waren 16 Spieler da, bei der zweiten kamen 22. Ich bin wirklich sehr angetan von der Mannschaft.
Mussten Sie sich nicht selbst verleugnen, als Sie vor der Saison sagten: Mal sehen, wohin der Weg Marktsteft führen werde. Meister zu werden sei jedenfalls nicht das Ziel.
Wilde: Nein, gar nicht. Vom Verein kam ja selbst die Ansage: Aufstieg ist nicht das vorrangige Ziel. Wichtiger ist: Wir haben fünf, sechs Talente in der A-Jugend – und wir wollen keine Fluchtaktionen. Das heißt: Sie sollen dringend in den Kader integriert werden. Das möchte auch das Publikum. Dafür verzeiht es auch mal eine Niederlage.
Also: Der Weg ist das Ziel, wie man als Trainer so schön sagt.
Wilde: Von dem Spruch halte ich gar nichts.
Nein?
Wilde: Lassen Sie sich die Worte mal auf der Zunge zergehen: Der Weg ist das Ziel! Sein Ziel definiert man zwar, aber wenn ich jetzt diesen Weg gehe, heißt das noch lange nicht, dass ich auch an meinem Ziel ankomme. Das ist wie der Spruch: Wir hatten heute Angst zu gewinnen. Welcher Mensch hat denn im Leben Angst zu gewinnen? Wir wollen doch alle gewinnen. Immer.
Kluge Menschen sind davon überzeugt, dass uns Niederlagen stärker machen als Erfolge.
Wilde: Ja, das ist etwas anderes. Das sind äußere Einflüsse, die dich im Leben prägen.
Glauben Sie daran?
Wilde: Ja, durch negative Erfahrungen lernt man mehr fürs Leben, und ich denke, man wird gegenüber manchen Dingen resistenter. Nur ein Beispiel: Sie sind sehr sozial eingestellt, setzen sich stark für einen Menschen ein und werden von ihm enttäuscht. Die Lehre daraus ist: Mach nächstes Mal etwas langsamer, investier nicht alles, das schützt dich vor Rückschlägen.
Oder ich bin dann so misstrauisch, dass ich überhaupt nichts mehr an mich heranlasse.
Wilde: Auch solche Reaktionen gibt es natürlich.
Würden Sie für sich sagen, Sie haben aus Niederlagen mehr mitgenommen als aus Siegen?
Wilde: Das hält sich im Idealfall die Waage. Mich haben Niederlagen oder Rückschläge auf gewisse Art reifer gemacht.
Geschichte des Derbys